Modul 1

Fredys Geburt und die Jüdische Gemeinde

Alfred (Fredy) Hirsch wird am 11. Februar 1916 in Aachen geboren. Anläßlich seiner Geburt veröffentlicht sein patriotisch gestimmter Vater, der Metzgermeister Heinrich Hirsch, im liberalen Politischen Tageblatt die Anzeige: „Zweiter Kriegsjunge angekommen“. Fredy Hirschs Eltern sind Juden. Zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter Olga Hirsch (geb. Heinemann) und seinem Bruder Paul wohnt Fredy zunächst bei seinem Großvater Emil in der Neupforte 13. Wenig später macht sich Heinrich Hirsch als Lebensmittelgroßhändler selbstständig und zieht mit seiner Familie in die Richardstraße 7.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit besucht Fredy Hirsch ab 1922 die Israelitische Volksschule in Aachen. Die Jüdische Gemeinde in Aachen ist zu dieser Zeit recht groß, sehr aktiv und liberal eingestellt. Sie umfasst rund 1300 Mitglieder. Die jüdischen Bürger sind hier integriert, bei Festivitäten der Jüdischen Gemeinde sind stets auch offizielle Vertreter der Stadt dabei.

Mutter Olga mit Paul und Fredy, um 1922. Foto: Stadtarchiv Aachen.
Grab von Heinrich Hirsch, Jüdischer Friedhof Aachen. Foto: privat.

Tod des Vaters Heinrich Hirsch

Heinrich Hirsch stirbt 1926 im Alter von 45 Jahren. Mit dem Tod des Vaters setzt der Verfall der Familie ein. Fredys Mutter ist mit der Weiterführung des Betriebs und der Erziehung ihrer beiden Söhne zunehmend überfordert. Häufig lässt sie ihre Kinder abends allein. Die Kinder sind verunsichert, fühlen sich einsam, die Familie bietet keinen Halt mehr. Zuflucht finden die Kinder vor allem im Jüdischen Jugendverein der Aachener Synagoge, der Aktivitäten wie Leichtathletik und „Deutsches Turnen“ anbietet, Wanderungen und Pfadfindergruppen organisiert. Dort erleben Fredy und Paul so etwas wie familiären Ersatz.

Modul 2

Fredys Schulbesuche und das Verschwinden seiner Mutter

Fredy und sein Bruder Paul sind in der Jüdischen Pfadfinderbewegung sehr aktiv. Hier vermischen sich Pfadfinderideale mit zionistischen Ideen. Mutproben, Übungen in Selbstverteidigung, Stockfechten, lange Märsche, Geländespiele und Orientierungsläufe gehören zum Pfadfinderalltag, ebenso Sport. Häufig finden Pfadfinderwochenenden in der Eifel statt. Fredys Bruder Paul wird Leiter einer Pfadfindergruppe.

Ab Ostern 1926 wechselt Fredy zur Aachener Hindenburgschule (dem heutigen Couven Gymnasium), eine naturwissenschaftlich orientierte Oberrealschule, die sein Bruder Paul bereits seit 1924 besucht. Die Mutter heiratet 1927 in Aachen ein zweites Mal. Ihr neuer Ehemann heißt Martin Raffael.

Folgt man den Äußerungen von Fredys Nichte Rachel Masel, der Tochter seines Bruders Paul aus zweiter Ehe, verlässt Olga Hirsch 1929 für ungefähr ein Jahr ihre Kinder. Niemand weiß, wo sie sich aufhält. Paul ist 15 Jahre alt, als die Mutter verschwindet. Die Weltwirtschaftskrise beginnt. In dieser Zeit kümmert sich die Nachbarin Hilde Saul um die beiden Jungen. Die Anbindung an die jüdische Pfadfinderbewegung wird für Fredy und Paul noch überlebenswichtiger. 

Diskussionsrunde mit Shoah-Zeitzeuginnen und Zeitzeugen am 11.2.2016 im Couven Gymnasium Aachen. V. l. n. r. Hanus Gärtner, Evelina Merová und Rachel Masel. Foto: Jürgen Nendza.

Zur Situation der Familie Hirsch hören Sie Rachel Masel, die Nichte von Fredy Hirsch (Interview 11.2.2016 Aachen).

Fredys Abgangszeugnis vom 27. März 1931, Stadtarchiv Aachen.

Fredys Schulabschluss

Am 27. März 1931 erhält Fredy Hirsch sein Abgangszeugnis von der Hindenburgschule. Laut Zeugnis „scheidet“ er von der Schule, „um eine andere Schule zu besuchen, da seine Eltern den Wohnort wechseln“. Fredy wird in die Untersekunda versetzt. Seine Leistungen sind eher mäßig, ein „sehr gut“ erhält er einzig im Fach „Leibesübungen“. Aus Berichten von Rachel Masel wird deutlich, dass der Stiefvater ein gutes Verhältnis zu den beiden Jungen gehabt haben muss. Ob die Familie Aachen überhaupt verlässt und wohin sie gezogen sein könnte, ist ungewiss.

Modul 3

Fredy wird Pfadfinder-Aktivist 

Fredy gilt unter den Pfadfindern als ausgezeichneter Sportler, insbesondere ist er ein guter Speerwerfer. Mit 15 Jahren leitet er in Aachen eine eigene Pfadfindergruppe. Er erweist sich schnell als hervorragender Organisator und Motivator und schlüpft mehr und mehr in eine Erwachsenenrolle.

In dieser Zeit kommt es zwischen Fredy und seinem Bruder Paul zu einem Bruch. Während Paul heimatverbunden ist und an eine jüdische Zukunft glaubt, bekennt sich Fredy zum Zionismus. Er arbeitet auf die Gründung eines eigenen Staates Eretz Israel in Palästina hin, in dem freies jüdisches Leben möglich sein soll. Fredy wird Mitglied im 1931 gegründeten Jüdischen Pfadfinderbund Deutschland (JPD). Der JPD bekennt sich kurz nach seiner Gründung zu zionistischen Zielen und wird zu Fredys weltanschaulicher Heimat.

Fredy Hirsch-Stolperstein, Aachen. Foto: privat.
Fredy in Pfadfinderkutte, um 1930. Foto: Stadtarchiv Aachen.

Düsseldorf

1932 hält sich Fredy mehrfach in Düsseldorf auf. Aachen ist als Unterbezirk dem JPD-Gau Düsseldorf zugeordnet. In Düsseldorf übernimmt Fredy ebenfalls die Leitung einer Pfadfindergruppe. Hier wird Fredy mit seiner JPD-Gruppe in eine Schlägerei mit den Kittelbach-Piraten verwickelt. Die Kittelbach-Piraten sind eine antisemitische, bündische Jugendorganisation, die der SA nahesteht. In der Straßenbahn der Linie 12 kommt es auf der Strecke zwischen Ratingen und Düsseldorf zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Jugendgruppen. Ein Kittelbachpirat reißt einem jüdischen Jungen die Kippa vom Kopf und schmeißt sie aus der Straßenbahn. Es entwickelt sich eine Schlägerei, bei der einer der Kittelbach-Piraten durch die Glastür der Straßenbahn geworfen wird.

Frankfurt

Nach dem Machtantritt Hitlers 1933 wird das jüdische Leben und seine Kultur in Deutschland zunehmend bedroht, eingeschränkt und zerstört. Fredy siedelt nach Frankfurt über, einer Stadt mit einer sehr großen Jüdischen Gemeinde, die damals rund 30.000 Mitglieder zählt. Dort lebt Fredy in einer Wohngemeinschaft mit Heinz Gochsheimer, Leiter des Frankfurter JPD, und Ernst Strauß, Mitglied im Jüdischen Pfadfinderbund Deutschland.
In Frankfurt wird sich Fredy mehr und mehr seiner Homosexualität bewusst. Homosexuelle Handlungen gelten als Straftat, werden als „abnorm“ geächtet. Auf Homosexualität steht Gefängnis. Mit der Machtergreifung der Nazis werden Homosexuelle noch rigider verfolgt. Fredy ist ein ausgesprochen gutaussehender, sportlicher junger Mann, der in Deutschland nun zweifach in Lebensgefahr gerät: wegen seines Judentums und wegen seiner Homosexualität.

Modul 4

Fredys Bruder Paul

Während Fredy in Frankfurt unterkommt, besucht sein Bruder Paul bis 1938 das jüdisch-theologische Seminar in Breslau. In dieser Zeit geht Paul eine erste Ehe ein und heiratet ein Mädchen vom jüdischen Pfadfinderbund, dessen Name vermutlich Susi Goldschmidt (oder Goldschmied) ist. Aus dieser Ehe stammt ein Kind, das jedoch eine Woche nach seiner Geburt verstirbt. 1938 wandert Paul zusammen mit seiner Frau, seiner Mutter und seinem Stiefvater nach Bolivien aus. Paul muss 1938 noch zu Fredy Kontakt gehabt haben, denn er fordert ihn auf, zusammen mit der Familie auszureisen.

Doch Fredy lehnt ab und teilt ihm mit, dass er nirgends hinfahren würde – außer nach Palästina. Fredys Bruder Paul arbeitet in Bolivien als Reformrabbiner. Bald lässt er sich scheiden und heiratet die neun Jahre ältere, verwitwete Lea Siegelwachs aus Gelsenkirchen, die einen Sohn mit in die Ehe bringt. Aus Pauls zweiter Ehe stammt seine Tochter und Fredys Nichte Rachel Masel. Später siedelt Paul mit seiner Familie, seiner Mutter und wohl mit auch seinem Stiefvater nach Argentinien (Buenos Aires) über.

Schüler-Portrait von Fredy Hirsch, 7. Klasse, Couven Gymnasium Aachen, 2015.

Fredy Hirsch, 3. von rechts, mit seiner Pfadfindergruppe, um 1934. Foto: Stadtarchiv Aachen.

Fredy, um 1934. Foto: Stadtarchiv Aachen.

Modul 5

Fredys Zeit in Frankfurt und Dresden

Am 1. November 1934 veranstaltet der Verein „Montefiore“, einer der ältesten jüdischen Jugendvereine in Deutschland, in Frankfurt einen Vortragsabend und lädt den erst 18-jährigen Fredy Hirsch als Redner ein. Unter dem Titel „Freizeit muss Zeit des Dienstes an der jüdischen Gemeinschaft sein“ doziert Fredy über vorbildliches jüdisches Verhalten. Im Dezember meldet das Jüdische Gemeindeblatt Frankfurt, dass Fredy als Vertreter des Jüdischen Pfadfinderbundes dem neuen Verwaltungsrat des Montefiore-Vereins Frankfurt angehört. In Frankfurt lernt Fredy Jiu-Jitsu und leitet möglicherweise eine Pfadfindergruppe von 15 Mädchen und Jungen.

Der Jüdische Pfadfinderbund Deutschland vereinigt sich 1934 mit der Makkabi Hatzair, die in ihrer Jugendarbeit zionistische Ziele verfolgt. Dazu gehören u.a. auch Erziehung zur Wehrhaftigkeit, Sport und Körperertüchtigung. Die Makkabi Hatzair will die jüdische Jugend  auf ein Leben in Palästina vorbereiten. Sie erteilt den Jugendlichen hebräischen Sprachunterricht und eine handwerkliche und landwirtschaftliche Ausbildung.

1935 verläßt Fredy Frankfurt und arbeitet als Sportlehrer des jüdischen Sportbundes Makkabi in Dresden. Das Leben für den homosexuellen Juden Fredy Hirsch wird in Deutschland immer lebensbedrohlicher. Die Gestapo erstellt systematisch Listen von Homosexuellen. Zugleich verschaffen die Nazis mit der Einführung der Nürnberger Gesetze ihrer antisemitischen und rassistischen Ideologie eine juristische Grundlage.

Modul 6

Fredy flüchtet in die Tschechoslowakei  

Am 1. September 1935 flüchtet der 19-jährige Fredy nach Prag. Schnell findet er eine Anstellung als Sportlehrer beim jüdischen Turn- und Sportverband Makkabi. Er schließt sich aber ebenso dem zionistischen Jugendbund Makkabi Hatzair an und arbeitet dort in verantwortlicher Funktion. Fredy leitet verschiedene Jugendlager und schreibt für das offizielle Nachrichtenblatt des tschechischen Makkabi. In seinen Artikeln betont er insbesondere die Bedeutung der sportlichen Ausbildung, die im Dienst des Makkabi-Gedankens zu stehen habe. Er setzt sich für die körperliche Stärkung der Kinder, für  ihre Auswanderung nach Palästina und für den Aufbau eines jüdischen Staates Eretz Israel ein.

Schüler-Portrait von Fredy Hirsch, 7. Klasse, Couven Gymnasium Aachen, 2015.
Im Dezember 1935 wohnt Fredy in Prag, Soukenicaká 1094. Foto: Jürgen Nendza, 2016.

Fredys sportlicher Einsatz für jüdische Kinder

Die große Kompetenz des begabten Organisators und Sporterziehers ist sehr gefragt. Er trainiert mit den jüdischen Jugendgruppen und führt Sommerlager durch. Stets wird Fredy als diszipliniert, sportlich und fordernd beschrieben, als jemand, der von den Jugendlichen ein Höchstmaß an Leistung verlangt. Zwischen Oktober 1936 und April 1939 wohnt Fredy in Brünn. Er gibt bei der Polizeibehörde an, politscher Emigrant zu sein. Er arbeitet als Trainer und organisiert „Makkabiaden“, große jüdische Sportfeste, die vom olympischen Gedanken ausgehen. Eine solche von ihm organisierte Makkabiade findet 1937 in Žilina (Slowakei) statt, an der 1600 Kinder teilnehmen. Im Frühjahr 1939 kehrt Fredy wieder nach Prag zurück.

Modul 7

Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei

Am 15. März 1939 marschiert die deutsche Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein. Aufgrund von Drohungen durch Hitler erklärt der slowakische Landtag die Abspaltung der Slowakei von der Tschechoslowakei. Die Slowakei fungiert von nun an als eigener, Nazideutschland ergebener Staat. Die deutsche Wehrmacht besetzt die „Rest-Tschechei“. Am 16. März 1939 verkündet Adolf Hitler die Errichtung des “Reichsprotektorats Böhmen und Mähren” und betrachtet die „Rest-Tschechei“ als Bestandteil des “Großdeutschen Reichs“.

Fredy (rechts) bei einer Sportveranstaltung, um 1939. Foto: Dita Kraus.
Dita Kraus, Aachen, 2016. Foto: Jürgen Nendza.

Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung

Die jüdische Bevölkerung des Protektorats ist sehr schnell allen Beschränkungen ausgesetzt, mit denen es die deutschen Juden seit 1933 im steigenden Maße zu tun haben. Der Prozess der Beschränkung und Einengung geht jedoch in einem viel schnelleren Tempo voran. Dies trifft natürlich auch die jüdischen Kinder, die keine Parks, Kino, Freizeitstätten, Sportanlagen mehr besuchen dürfen. 
Eine besondere Bedeutung erhält nun der im Prager Stadtteil Strašnice gelegene Spielplatz Hagibor, der zum Betätigungsfeld für Fredy Hirsch wird. Unter seiner Leitung treffen sich hier Hunderte Prager Kinder zu sportlichen Übungen, Wettkämpfen und geselligem Miteinander. Nach wie vor legt Fredy großen Wert auf Disziplin, physische Tüchtigkeit und Kollektivgeist. Er findet großen Anklang unter den Kindern, obwohl er meist Deutsch spricht, denn Tschechisch beherrscht er nur mäßig.

Zur Zerschlagung jüdischen Lebens in Prag hören Sie Dita Kraus (Interview Aachen, 11.2.2016).

Fredys Zeit als Lehrer für jüdische Jugendliche in Prag

Fredy leitet 1939 auch eine Gruppe von 12-14jährigen Jungen, die die Alija-Schule in Prag besuchen und über Dänemark nach Israel auswandern sollen. Noch bis zum Herbst 1940 machen sich tschechische Juden auf den Weg nach Palästina. Die Kinder müssen modernes Hebräisch, also Iwrit, lernen und körperlich trainiert werden, um den Herausforderungen in Palästina gewachsen zu sein. Eine solche Ausreise bedarf umfangreicher Vorbereitung und der Beschaffung von Einreisezertifikaten, die die britische Mandatsmacht in Palästina ausstellen muss. Die Organisation der eigentlichen Reise übernimmt die Jewish Agency in Genf. Im Herbst 1939 gelingt es Fredy und seinem Kollegen eine Gruppe von achtzehn Jungen zwischen zwölf und vierzehn Jahren von Prag über Dänemark nach Palästina zu schicken.

Fredy Hirsch hätte die Chance gehabt, mit dieser Gruppe auszureisen und dem Holocaust zu entgehen. Doch es gibt zwei Leiter, und nur einer darf die Jugendlichen begleiten. Wer die Jugendlichen begleitet, wird durch Streichholz-Ziehen entschieden. Fredy zieht das kürzere Streichholz und bleibt in Prag.

Fredy bei einer Sportveranstaltung, um 1939. Foto: Dita Kraus.

Zu Fredys Wirken auf dem Hagibor und den ersten Begegnungen mit ihm hören Sie Dita Kraus (Interview 11.2.2016, Aachen) und Evelina Merová (Interview 16.8.2016, Prag).

O-Ton Dita Kraus.

Never-Forget-Postkarte: Gedenkpostkarte für die ermordeten Kinder in Theresienstadt, gestaltet von SchülerInnen der Klasse 10, Couven Gymnasium Aachen, 2017.

Zuzana Růžičkova. Prag, 15.8.2016. Foto: Jürgen Nendza.

Zur Ankunft in Theresienstadt hören Sie auch Zuzana Růžičkova (Interview 15.8.2016, Prag).

Modul 8

Fredy, Theresienstadt und die Kinderheime

Im Oktober 1941 werden erstmals auch Juden aus Prag im polnischen Konzentrationslager Litzmannstadt (das heutige Lodz) interniert. Doch dieses Lager ist schnell überfüllt. Das Reichssicherheitshauptamt beschließt deshalb die Errichtung eines “Ghettos” in der ehemaligen Garnisonsstadt Theresienstadt. Es soll als Zwischenlager für den Weitertransport von hauptsächlich Jüdinnen und Juden nach Polen dienen. Die SS befiehlt der Jüdischen Kultusgemeinde in Prag im November 1941 einen Transport junger Männer (das sogenannte „Aufbaukommando I“) nach Theresienstadt zu schicken. Sie sollen die Errichtung eines neuen Zwangslagers vorbereiten. Im Dezember 1941 werden 24 jüdische Führungspersönlichkeiten entsendet, um sich um den organisatorischen Aufbau von Theresienstadt zu kümmern.

Zu diesem Organisationsstab gehört auch Fredy Hirsch. Von nun an werden alle Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Tschechoslowakei systematisch nach Theresienstadt deportiert.

Fredy in Theresienstadt

Über Fredys Homosexualität wird unter den Kindern durchaus gesprochen. Sie wird ihm aber nicht angelastet, sie wird toleriert und nicht öffentlich thematisiert, auch nicht seitens des Jüdischen Ältestenrates.

Mit der Einrichtung von Kinderheimen will der Jüdische Ältestenrat den Kindern die Härte der überfüllten Lagerunterkünfte ersparen. Teilweise leben bis zu 60.000 Menschen unter erbärmlichen Verhältnissen in Theresienstadt. Das Lager ist restlos überfüllt und nur für 20.000 Personen ausgerichtet. Um die Kinder kümmert sich die Jugendfürsorge, in der Fredy eine führende Funktion wahrnimmt. Fredy organisiert den Alltag und die Ernährung der Kinder, achtet auf Disziplin und Sauberkeit. Viel Zeit investiert er in die Organisation des sportlichen Lebens in Theresienstadt. Es gelingt ihm, einen Sportplatz für die Kinder zu bekommen. Er spielt ihnen auch auf der Flöte vor, macht sie mit deutschem Liedgut bekannt, übt Schattenspiele ein und fertigt mit den Kindern Puppen an. Am 24.1943 gelingt es ihm, die sogenannte „Theresienstädter Makkabiade“ durchzuführen. Eine Sportveranstaltung, an der 22 Theresienstädter Mannschaften und rund 2000 Kinder teilnehmen. 

Nach den Plänen der Nazis soll Theresienstadt gleich mehrere Funktionen bei der Endlösung der Judenfrage erfüllen. Das “Ghetto” ist als Durchgangs- und Sammellager gedacht, vor allem für die Juden aus Böhmen und Mähren, um sie dann weiter in die Vernichtungslager im Osten zu deportieren. Aber auch Juden aus Ungarn, der Slowakei, Österreich, Dänemark und aus den Niederlanden werden nach Theresienstadt geschickt. Gleichzeitig ist es ein Dezimierungslager. Tatsächlich sterben dort von den mehr als 160.000 Menschen, die insgesamt nach Theresienstadt deportiert werden, rund 35.000 an Unterernährung und mangelnder Hygiene, an fehlender medizinischer Versorgung und unterlassener Hilfeleistung.

Schüler-Portrait von Fredy Hirsch, 7. Klasse, Couven Gymnasium Aachen, 2015.

Eingangsbereich Theresienstadt. Foto: Robert Eklund. 2020.

Never-Forget-Postkarte: Gedenkpostkarte für die ermordeten Kinder in Theresienstadt, gestaltet von SchülerInnen der Klasse 10, Couven Gymnasium Aachen, 2017.

Modul 9

Fredy und die Kinder aus Bialystok 

Im Sommer 1943 kommen etwa 1.200 Kinder aus dem polnischen Bialystok nach Theresienstadt. Sie werden isoliert untergebracht und es ist bei Todesstrafe verboten, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Die Kinder sind traumatisiert und befinden sich in einem fürchterlich verwahrlosten Zustand. Und: Sie müssen von den Vergasungen in anderen Lagern gewusst haben. Dass Juden in anderen Konzentrationslagern in Gaskammern ermordet werden, wissen die meisten Theresienstädter Häftlinge zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Fredy will sich um diese Kinder kümmern. Bei der Kontaktaufnahme mit ihnen wird er jedoch erwischt. Die SS bestraft ihn und er wird am 6. September 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur wenig später werden die Bialystoker Kinder zusammen mit ihren Betreuern ebenfalls nach Auschwitz-Birkenau gebracht und dort ermordet.

Modul 10

Fredy wird nach Auschwitz deportiert

Im September 1943 werden zwei Transporte aus Theresienstadt mit insgesamt 5.007 Menschen nach Auschwitz-Birkenau geschickt und dort im Sektor BIIb zwischen dem Quarantänelager für Männer und dem Lager für Ungarinnen untergebracht. Auf den Papieren dieser Transporte steht der Vermerk „sechsmonatige Quarantäne“. So entsteht das „Theresienstädter Familienlager“. Männer und Frauen werden getrennt untergebracht, können einander aber sehen. Nach wie vor ist unklar, warum die SS das Lager einrichtet. Unter den Gefangenen der Septembertransporte sind 274 Kinder unter 15 Jahren. Im Dezember 1943 kommen zwei weitere Transporte aus Theresienstadt in das Familienlager, die sogenannten „Dezembertransporte“, wodurch die Anzahl der Kinder auf über 500 anwächst.

Zaunanlage in Auschwitz II Birkenau. Foto: SteveAllenPhoto999

Zur Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und zu Fredys Organisation des Kinderblocks hören Sie auch Yehuda Bacon (Interview 7.10.2014, Jerusalem), Evelina Mervová (Interview 16.8.2016, Prag) und Ruth Bondy (Interview 7.10.2014 in Ramat Gan bei Tel Aviv) und Zuzana Růžičková (Interview 15.8.2016, Prag):

 O-Ton Bacon.

O-Ton Merová.

O-Ton Bondy.

O-Ton Zuzana Růžičková.

O-Ton Merová.

Kinderblock, Auschwitz-Birkenau. Zwei Zeichnungen von Dita Kraus. 2015.

Zum Ablauf des Alltags und des Unterrichts im Kinderblock und zu Fredys Arbeit und Umgang mit den Kindern hören Sie auch Zuzana Růžičková (Interview 15.8.2016, Prag)

O-Ton Zuzana Růžičková.

Modul 11

Fredy richtet einen Kinderblock ein

Fredy gelingt es, der SS die Einrichtung eines Kinderblocks abzutrotzen. Er weiß, dass die Kinder, wollen sie unter den extrem menschenverachtenden Bedingungen eines Vernichtungslagers überleben, eines besonderen Schutzes bedürfen. Den kurzzeitigen Posten eines Lagerkapos, den er widerwillig und auf Zwang hin ausübt, gibt er auf und wird Leiter des Kinderblocks, des Blocks 31. Hier finden sich täglich bis zu 500 Kinder ein. Sie schlafen nachts bei ihren Müttern und werden morgens von den Erziehern abgeholt. Wichtig ist für Fredy, den Kindern so etwas wie Normalität und einen geregelten Alltag zu ermöglichen, verbunden mit dem Mut, die Hoffnung nie aufzugeben. Um Hoffnung zu vermitteln und an die Zukunft zu denken – dafür waren die Durchführung eines (von der SS geduldeten) Schulunterrichts sowie kulturelle Betätigungen ein gutes Zeichen.

Fredys Einsatz für die Kinder in Auschwitz-Birkenau

Bessere Suppe, Sonderrationen aus herrenlosen Paketen, Zählappelle im geschlossenen Block und ein zumindest schwach geheizter Raum: Fredy erwirkt überlebenswichtige Vergünstigungen für die Kinder. Er weiß aber auch, dass ohne Disziplin und Selbstdisziplin keines der Kinder eine Überlebenschance hat. Hygiene ist daher sehr wichtig. Fredy kontrolliert die Kinder nach Läusen. Zudem müssen sie sich täglich waschen, im Winter draußen im Schnee. Ferner sind Leibesübungen und regelmäßige Mahlzeiten unentbehrlich für die Stärkung körperlicher Widerstandskraft. Die Kinder vergöttern Fredy, kein Kind stirbt unter Fredys Leitung im Kinderblock.

Fredys Arbeit ermöglicht den Kindern das Überleben. Hören Sie dazu Evelina Merová (Interview  11.2.2016, Aachen), Yehuda Bacon (Interview 7.10.2014 Jerusalem) und Zuzana Růžičková (Interview 15.8.2016 Prag)

O-Ton Merová.

O-Ton Bacon.

O-Ton Zuzana Růžičková.

 

Never-Forget-Postkarte: Gedenkpostkarte für die ermordeten Kinder in Theresienstadt. Gestaltet von SchülerInnen der Klasse 12, Couven Gymnasium Aachen, 2017.
Koffer und Taschen von Häftlingen in Auschwitz-Birkenau. Foto der Couven-Schülerin Chantal Martens, 2011

Fredys Haltung und Einsatz gegenüber der SS

Fürs Überleben ist aber auch ein einigermaßen ordentliches Erscheinungsbild gegenüber der SS unabdingbar. Das gilt für die Kinder, aber auch für Fredy. Niemand sollte Schwäche zeigen. Man sollte Haltung und Anstand bewahren. Und auch Fredy beweist Haltung und Anstand, nicht zuletzt gegenüber der SS, der er stets vorbildlich gekleidet, akkurat, geradezu preußisch gegenübertritt. Fredy hat eine Sonderstellung inne, ohne mit den Nazis zu kollaborieren. Und er hat Chuzpe.

Schneewitchen-Aufführung

Die Kinder im Kinderblock werden in kleinen Einheiten unterrichtet, zum Zeichnen und Theaterspielen angehalten. Nicht selten werden die Theaterstücke später im Dabeisein der SS aufgeführt. Der Kinderblock untersteht Josef Mengele, der ihn des Öfteren aufsucht. So kommt es zu der grotesken und makaberen Situation, dass die Kinder ihren Henkern vorspielen, wie bei der Schneewitchen-Aufführung kurz vor Weihnachten 1943.

Zur Schneewitchen-Aufführung hören Sie Zuzana Růžičková (Interview 15.8.2016, Prag)

O-Ton Zuzana Růžičková.

Never-Forget-Postkarte: Gedenkpostkarte für die ermordeten Kinder in Theresienstadt, gestaltet von SchülerInnen der Klasse 10, Couven Gymnasium Aachen, 2017.
Never-Forget-Postkarte: Gedenkpostkarte für die ermordeten Kinder in Theresienstadt, gestaltet von SchülerInnen der Klasse 11, Couven Gymnasium Aachen, 2017.

Modul 12

Vernichtung der Septembertransporte und Rätsel um Fredys Tod

Ende Februar 1944, als die sechsmonatige Quarantäne der Septembertransporte zu Ende geht, kursieren Gerüchte im Familienlager, dass Häftlinge der Septembertransporte in den Gaskammern ermordet werden sollen. Die SS versucht unter den Häftlingen den Eindruck zu erwecken, dass sie zu Arbeiten in ein anderes Arbeitslager nach Heidebrück gebracht werden. Am 7. März 1943 sollen dann die Arbeitskommandos nicht ausrücken und alle Häftlinge der Septembertransporte in den Lagern bleiben. Später werden sie in den Quarantäneblock gebracht. Häftlinge des Sonderkommandos, die in den Krematorien arbeiten, beginnen am gleichen Tag mit der Befeuerung der Krematoriumsöfen.

Never-Forget-Postkarte: Gedenkpostkarte für die ermordeten Kinder aus Theresienstadt, gestaltet von SchülerInnen der Klasse 12. Couven Gymnasium Aachen, 2017.

Zu Fredys letztem Tag im Kinderblock hören Sie Zuzana Ruzicková (Interview 15.8.2016, Prag)

O-Ton Zuzana Růžičková.

Die Befeuerung der Krematoriumsöfen gilt als sicheres Zeichen dafür, dass die SS Vergasungen plant. Mitglieder des kommunistischen Widerstands leiten diese Informationen weiter. Angesichts des sicheren Todes wird der Plan zu einem völlig unvorbereiteten Aufstand ins Auge gefasst. An Fredy wird am 8. März seitens des kommunistischen Widerstands der Wunsch herangetragen, diesen Aufstand zu leiten. Man sieht in ihm eine überragende, von allen respektierte Führungspersönlichkeit, dem sich alle Lagerinsassen anvertrauen würden. Er soll mit seiner Trillerpfeife das Signal zum Aufstand geben.
Fredy ist hin und hergerissen. Er weiß nicht, was er glauben und tun soll. Durch einen Aufstand würde er das Leben aller, nicht zuletzt das seiner Kinder gefährden. Auf jeden Fall droht ihm der Abschied vom Kinderblock.

Fredy bittet um Bedenkzeit. Er will über die ihm angetragene Rolle bei einem Aufstand nachdenken. Da er Kopfschmerzen hat, bittet er um ein Beruhigungsmittel vom Krankenlager. Zeitgleich gehen am Mittag des 8. März SS-Leute durch den Block und rufen die Namen von Häftlingen auf, die Mengele auf einer speziellen Liste zusammengetragen hat. Mengele will diese Häftlinge verschonen will, weil er sie für seine Zwecke noch braucht. Sie dürfen zurück ins Familienlager gehen. Angeblich steht auch Fredys Name auf der Liste.

 

Rätsel um Fredys Tod

In der Nacht vom 8. auf den 9. März wird das Quarantänelager von der SS umstellt. Die Häftlinge werden auf LKW geladen und zu den Gaskammern transportiert. 3792 Menschen werden in dieser Nacht ermordet, größtenteils tschechische Juden. Fredy wird am Nachmittag des 8. März bewusstlos aufgefunden. Er hat anscheinend eine Überdosis an Beruhigungsmitteln genommen. Alles sieht nach Selbstmord aus. Vermutlich wird er bewusstlos in die Gaskammer getragen.

Unklar bleibt, was genau der Zweck des Theresienstädter Familienlagers war. Unklar bleibt auch, wie Fredy letztlich zu Tode kam. War es wirklich Selbstmord? Inzwischen verhärtet sich die These, dass Fredy von Häftlingsärzten, die für Mengele arbeiten mussten und deren Leben zunächst durch die Aufnahme in die Mengele-Liste gerettet schien, mit zu starken Beruhigungsmitteln ruhig gestellt wurde. Ein Aufstand hätte vermutlich den Tod aller aus dem Familienlager bedeutet, auch der Ärzte und Pfleger, die auf der sicheren Mengele-Liste standen. Dita Kraus liefert starke Argumente für diese These. Auch Zuzana Růžičková glaubt nicht, dass Fredy Selbstmord begangen hat.

Fredy Hirsch-Gedenkstein in Theresienstadt. Das Geburtsdatum ist falsch vermerkt. Fredy Hirsch wurde am 11.2.1916 geboren. Foto: privat.

Zur Fragwürdigkeit der These, dass Fredy Selbstmord begangen habe, hören Sie Dita Kraus (Interview Aachen, 11.2.2016) und Zuzana Růžičková (Interview 15.8.2016, Prag):

O-Ton Dita Kraus.

O-Ton Zuzana Růžičková.

Kurzbiografien der Shoah-ZeitzeugInnen

   

Projektidee, Anmerkungen, Quellen & Danksagungen